Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung in der Galerie Tammen & Busch, Berlin, 1.10.2003
Wenn ich im Titel meiner Rede von der “Geste” gleichzeitig im Singular und im Plural spreche, dann meine ich damit zwei ganz unterschiedliche Gesichtspunkte, die dieser Begriff in der Malerei Sebastian Heiners für mich hat: zum einen die “gestische Malerei”, also die Bewegung der Hand oder auch des ganzen Körpers im Aktus des Malens; zum anderen die Zeige- und Verweisgesten, die in vielen seiner Bilder vorkommen.
Die Malerei der Geste findet sich vor allem in den abstrakten Bildern wieder. Das sind jene Gemälde mit einem ungestümen, pastosen Farbauftrag, mit gespachtelter, geschütteter oder gar mit den Händen und Fingern überarbeiteter Farbmasse; Gemälde, die den Prozess ihrer Entstehung nicht zu verschleiern suchen, in denen die Dichte und Volumen der verwendeten ölfarbe von der schieren körperlichen Arbeit bei der organisierenden Bewältigung der Kompositionen und der Farbabstimmungen zeugen.
Als Malerei der Gesten bezeichne ich dagegen die inhaltlichen Aspekte im Sinne des Abgebildeten: jene Gesten, die hier und da aufblitzen als Bewegungen von Armen und Händen, die etwas auszudrücken scheinen oder etwas erzählen möchten. Sie kommen nicht in den abstrakten Bildern vor, sondern in den figürlichen Kompositionen. Ein Gestus – eigentlich das Mienen- oder Gebärdenspiel – meint hier etwas ganz anderes. Heiners Figuren, die nie ein Gesicht haben, bewegen sich im Bildraum oder stehen in Gruppen beieinander. Manche gestikulieren. Sie weisen mit Händen oder Armen in eine bestimmte Richtung und zielen damit auf einen unmittelbaren narrativen Aspekt oder aber einen umfassenderen Zusammenhang, der sich erst in der stillen Zwiesprache mit dem Betrachter einzustellen vermag.
Sebastian Heiners Malerei speist sich demnach aus zwei ganz unterschiedlichen Quellen und stellt sich – bewusst oder unbewusst – in ganz unterschiedliche Traditionen: das Gestische in der Malerei lässt sich auf die informelle Kunst beziehen; die gemalten Gesten dagegen auf eine Ikonografie, die – zumal in unserem Kulturkreis – dem Fundus der christlichen Bildersprache zugehörig ist. Das intentional-kommunikative Element der Gebärdensprache liefert eine Vielzahl von Gesten, die allgemein verständlich sind – als da beispielsweise wären der Engel, der Adam und Eva nach dem Sündenfall mit erhobenem Arm aus dem Paradies verweist oder der Schmerzensmann, der auf seine Wunde deutet. Bildhafte, gestische Verweise wie diese werden traditionell instrumentalisiert im Dienste einer Religion oder Ideologie, um den Betrachter zur Demut zu zwingen, ihn an seine Vergänglichkeit zu erinnern oder aber auf Bereiche zu verweisen, die außerhalb der konkreten, körperlichen Erfahrung und der Wirklichkeit liegen.
Sebastian Heiner Malerei bedient sich genau solcher Mittel. Doch in ihrem Bedeutungsgehalt bleiben sie offener, als dies mein Rückgriff auf die ikonografische Tradition vermuten ließe. Jeder Einzelne von uns kann sie mit Inhalten füllen, zumal wenn die Bildtitel eine Richtung angeben.
An einem Beispiel möchte ich das näher erläutern. Vorne hängt ein kleines, eher unscheinbares Gemälde mit dem Titel “Alte Leute mit Herz”. Es zeigt ein Menschenpaar als Schemen und ohne Gesichter. Folglich werden nicht die Emotionen der Alten preisgegeben, auch wenn das der Titel nahelegt. Die Figuren und der Hintergrund sind farblich zurückgenommen bis an die Grenze ihres Verschwindens, fast nur noch eine Evokation, vielleicht eine zarte, vielleicht eine heftige und schmerzensreiche Erinnerung. Eine abgründige Traurigkeit scheint von diesem Paar, das sich einander zuwendet, auszugehen. Verbindet sie das Wissen um gemeinsam Erlebtes? Das Herz, das der Titel des kleinen Bildes benennt, ist keine bloße Behauptung oder gar kitschige Bildmetapher; vielmehr wird die Körperstelle, unter der das Organ seinen Ort hat, von einem schrundigen Farbfeld eingenommen. Auf dem Brustkorb des Mannes öffnet es sich und verweigert sich doch gerade auch deshalb jeder eindeutigen Lesbarkeit. Dieser Mann lässt es geschehen, dass die Frau ihre Hand auf sein entblößtes Herz legt.
Sie werden eine ganze Reihe weiterer Bilder entdecken, in denen solche Zeige- oder Verweisgesten vorkommen, wenn auch nicht mit gleich hoher Intensität, ja Intimität wie bei dem alten Paar. Die anderen Bilder sind sie eher expressiv, die Gesten brechen aus dem Bildgefüge aus. Sie verweisen auf einen Bereich außerhalb des Rahmens, oder aber sie legen sich wie Klammern um eine Gruppe von Figuren, die sich aus unbekannten Gründen zusammengefunden hat. Doch stets stellen sie Beziehungen innerhalb des Bildes her, in kompositorischer Absicht und als Mittel der Bilderzählung. In letzterer Hinsicht führen sie eine nonverbale Ansprache an den Betrachter.
Neben den abstrakt gestischen Bildern und den Bildern der großen und kleinen Gesten gibt es noch eine dritte Gruppe von Gemälden. Das sind die Bilder von Landschaften. Das sind zwar abstrakte Landschaften, doch keine Seelenlandschaften in der Tradition romantischer Innerlichkeit.
Selbständige Darstellungen der Natur wurden erstmals bildwürdig mit Albrecht Dürer, der auch den Begriff der Landschaftsmalerei eingeführt hat. Zunächst noch topographisch bestimmt, waren Landschaften bald schon dazu geeignet, Emotionen zu schüren. Albrecht Altdorfer hat sie ins Kosmisch-Visionäre gesteigert. Später, im 17. Jahrhundert, wurden Innenräume mit phantastischen Landschaften dekoriert, Landschaften, die keine bestimmten Orte mehr darstellten. Meist waren das ideale, harmonische und klare Prospekte voller Sonne und Licht.
Gemeinsam ist der alten Malerei die Dramatik der Topographie, das Spektakuläre, das überhaupt erst das Interesse weckt – die erhabene Landschaft mit oder ohne Staffage, in der der betrachtende Mensch seine Kleinheit, seine unbedeutende Rolle spüren soll. Je stärker dieser Eindruck aufkommt, je geringer sich der Betrachter seiner eigenen Person vergewissert, um so mehr “wächst” die Verfügungsgewalt des Malers über die Natur – und die Betrachter.
Ausgeklügelte Kompositionsprinzipien, kulissenhafter, ja bühnenartiger Aufbau von Vorne und Hinten, von Nah- und Weitblick, lichtdurchflutete Landschaftsräume im Hell-Dunkelkontrast – alles das leitet die tief empfundenen, dramatischen Gefühle beim Anblick solcher Bilder.
Zwar erschließt sich der Mensch die Landschaft und macht sie sich untertan, aber er fühlt sich darin oft “heimatlos”. Doch die Bilder in einer reich ausgearbeiteten Tonskala werden erfüllt von lyrischen Gefühlen und dramatischer Spannung. Rembrandt und Rubens und einige weniger bekannte ihrer Zeitgenossen haben diesen Eigenwert der Landschaftsmalerei entdeckt, der sich auch bei Sebastian Heiner wieder findet. Ich denke vor allem an einen der “bekanntesten” unbekannten holländischen Maler des 17. Jahrhunderts, an Hercules Seghers. Er verwandelte die neu gefundenen Prinzipien in abstrakte Schemata. Sie waren aus der Phantasie entstanden und kamen oft ohne Figuren aus: weitläufige Flach- und Berglandschaften im Panoramaformat, von einem erhöhten Standpunkt aus gesehen, der Himmel grau verhangen oder mit dramatischem Wolkenformationen besetzt.
Der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger beschrieb 1921 die Landschaften des Hercules Seghers in erschütternder Eindringlichkeit als apokalyptische Landschaften. In der Landschaftsanschauung des Holländers, in einer den Raum durchwaltenden Dynamik machte Fraenger die politische Entfremdung und existentielle Vereinsamung des Menschen seiner eigenen Zeit in der frühen Weimarer Republik aus.
Als ich erstmals Sebastian Heiners Landschaften in seinem Atelier sah, musste ich an Fraengers dramatische Beschreibungen denken: das Formenchaos der Einöde; die gequollenen Erd- und Vegetationsanhäufungen, die Schutthalden gleichen; alles triefend und zerklebt, als tropfe der Morast der überschwemmung schwer und langwierig durch das Bild; widrig geborstene Stämme, wie hingeschüttet in einem Lawinensturz; jeder Pflanzenwuchs erstorben; überall grimmige Wildnis, in der die Menschen ausgerottet scheinen. Angesichts der surreal-dramatischen Landschaften bei Seghers hatte Fraenger ausdrucksgleiche Empfindungen parat, wenn er die apokalyptischen Szenarien eines durchgepflügten Landes beschrieb – Szenarien, die zwar kaum noch an reale Erfahrungen anknüpfen konnten, um so mehr jedoch das vermeintlich Naturgegebene poetisierten. Das waren Bilder, die keinen Ort und keine Zeit mehr zu haben scheinen. Hier spricht der alttestamentarische Prophet: “Ich schaute das Land an, siehe, das war wüst und öde … Ich sah – und siehe, da war kein Mensch und alles Gevögel unter dem Himmel war weggeflogen. Ich sah – und siehe, das Baufeld war eine Wüste, und alle Städte drinnen waren zerbrochen vor dem Herrn und vor seinem grimmigen Zorne.”
Paradox erscheint allemal, das Metaphern der Naturzerstörung, der Zerrüttung und der Unwirtlichkeit von einem Maler wie Sebastian Heiner als Vorwand für den Bildaufbau genommen werden können: doch Zerstörung ist hier identisch mit Gestaltung, Aufbau und Bildschöpfung. Darin liegt ihre bildnerische Paradoxie und ihre Modernität begründet.
Zur Apokalypse, zur blinden Katastrophe, gehört immer auch das Versprechen von Erlösung, gehört die Strahlungsenergie, die, aus fester Mitte kommend, sich kräftig und nervig zu den Außenrändern drängt. In der Tat kommen solche hellen “Energiefelder” auch in einigen Landschaftsbildern Sebastian Heiners vor. Doch man weiß nie genau, ob sie die Katastrophe auslösen oder auf ein Jenseitiges – auf das “Neue Reich”, das stets dem Untergang folgen soll – verweisen. Die Beantwortung dieser Frage wäre auch müßig, denn Heiners Bilder sind abstrakt. Und so überlasse ich es getrost den gläubigen Apokalyptikern, die Frage in der einen oder der anderen Richtung zu beantworten.
Ich aber möchte abschließend noch von einem ganz irdischen – nein: nautischen – Erlebnis berichten, ein Erlebnis bei meinem Atelierbesuch, das mich seither beschäftigte, zumal als ich während der Vorbereitung meiner Rede auf einen spannenden Aufsatz über Wasserwelten zwischen Glaswänden – sprich Aquarien – als Sinnbilder des Innenlebens und Metaphern der Seele gestoßen bin. In Sebastian Heiners Atelier stehen zwei Aquarien und ein Terrarium. Wie gebannt blieb ich davor stehen. Ich schaute bestimmt ebenso lange hinein wie später auf jedes seiner Bilder. Gläserne Schreine als Orte der Inspiration inmitten der Großstadt, in der das Leben tobt? Aquarien als Ersatz für das Fenster, das ja selbst eine Allegorie für ein Tafelbild ist, das den Blick nach draußen öffnet und in der Regel eine naturalistische Malerei oder Beschreibung nach sich zieht?
Der Blick aufs “Bonsai-Meer” des Aquariums – so jedenfalls schrieb die Kunsthistorikerin Ursula Harter gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – zieht die Innenschau nach sich, die Unterwasserwelten werden zur Evokationsquelle von Traumbildern des Unbewussten. Ich möchte diesen abschließenden Vergleich nicht überstrapazieren, zumal die Autorin sich auf auf Joris-Karl Huysmans, Oscar Wilde, Gustave Moreau und andere Schriftsteller und Künstler des narzisstischen fin de siècle bezogen hat und in Aquarien jene Projektionsflächen für Phantasmagorien sah, in denen die künstlichen Paradiese der Opium-Träume wuchern und die Versuchungen in den Gestalten von Medusen, Undinen, Nixen, Korallen, Seelilien und Muscheln lauern.
Und dennoch: Aquarien scheinen für Sebastian Heiner nicht nur die Orte der Inspiration zu sein, sondern die Spiegel seiner Selbstvergewisserung und des Selbstvertrauens in seine Malerei, die von großstädtischen Impulsen zehrt, ohne diesen jedoch – wie so viele Kunst in der heutigen Zeit – zu erliegen.
Hansdieter Erbsmehl
Berlin, 1. Oktober 2003