Photo: Adele Sellhorn

Irrfahrt

Wir wussten nicht, wohin uns die Busfahrt führen sollte, als wir erschöpft aus dem Labyrinth der Jerusalemer Altstadt kamen. Ursprünglich sollte uns die Buslinie direkt zum zentralen Busbahnhof führen. Der Bus, in den wir einstiegen, sah genauso aus, wie ein Bus in Berlin. Der Bus hatte die gleiche Innenausstattung. Es kam mir sehr merkwürdig vor, durch Jerusalem zu fahren, anstatt in Berlin zu sein.

Der Busfahrer raste scharf um die Kurven und hupte so oft er konnte, Fußgänger, die zu langsam die Straße überquerten, mussten um ihr Leben fürchten. Ich dachte plötzlich, als ich durch die Scheiben blickte, wie seltsam, du befindest dich in einem so vertrauten Fahrzeug, wie kannst du dir da sicher sein, dass du nicht träumst?

Die Busfahrt zog sich in die Länge. Wir hatten das Zentrum von Jerusalem längst verlassen und rasten Hügel hinauf. Jetzt schauten wir hinab auf ein Lichtermeer. Eine in der Nacht glitzernde, funkelnde Stadt. Der Busbahnhof allerdings ließ auf sich warten. Immer dunkler wurden die Straßen und einsamer die Umgebung. Schließlich erreichten wir eine abgelegene Wohnsiedlung. Der Bus hielt an einem kleinen Supermarkt der im kalten Neonlicht leuchtete.

Wir waren die letzten Fahrgäste und fragten den Busfahrer verunsichert: „Ist das schon die Endstation?“ Der Busfahrer lächelte müde und stützte sich lässig auf das Lenkrad: „Was?!“ „Wir wollten zum Busbahnhof!?“. „Ich mache zehn Minuten Pause, dann könnt ihr wieder einsteigen!“, war seine trockene Antwort. Da erinnerten wir uns plötzlich an ein futuristisches Gebäude in der Innenstadt. Vielleicht war das der Bahnhof gewesen, aber jetzt mindestens eine Dreiviertel Stunde entfernt.

Zehn Minuten später, wir waren ausgestiegen, kam der Bus wieder angerollt und der Fahrer entwertete unsere Fahrscheine ein zweites Mal. Er fragte uns: „Woher kommt Ihr?“ „Aus Berlin!“, antworteten wir, „wir wollen zurück nach Tel Aviv!“ Er lachte und antwortete: „So, so!“ Dann raste er mit seinem Bus die Hügel wieder hinunter, als sei er auf der Flucht! Er wies uns an, ganz vorne Platz zu nehmen und ließ uns nicht mehr aus den Augen. Er schaute über seinen runden Spiegel, der über dem Lenkrad angebracht war. Mir wäre lieber gewesen, er schaute zur Straße hinaus.

Schließlich erreichten wir den zentralen Busbahnhof von Jerusalem. Etwa eine Stunde später erreichten wir Tel Aviv. Da es schon spät war, winkte ich ein Taxi heran. Als wir nach Hause, in Richtung Mittelmeer fuhren, erkannten wir bald uns vertraute Straßen. Ich blickte aus dem Taxi und sah junge Leute auf einem Platz im Kreis tanzen. Sie lachten ausgelassen, lagen sich in den Armen und tanzten unaufhörlich! „Warum sind sie so glücklich? Sind sie verrückt geworden? “, fragte ich den Taxifahrer. „Aber nein, nein, es sind gut ausgebildete, friedliche und sehr gläubige Juden, deren Religion ihnen das Glücklich-Sein lehrt. Zu lachen bedeutet für sie, sich mit der Welt zu versöhnen, um dadurch Gott näher zu sein!“

Zu Hause angekommen, legte ich mich gleich ins Bett und versuchte die Augen zu schließen. Von draußen drang laute Musik aus einem Club gegenüber durch mein geschlossenes Fenster. Ein plötzlich heftiges Jammern und Heulen, ein Schimpfen, vermischte sich mit dem Lärm der Straße und der Musik. Eine junge Frau war verzweifelt und schrie. Sie trat heftig gegen scheppernde Mülltonnen. Ich lag hellwach im Bett und dachte nur: Könnte ich ein gläubiger Mensch sein und immer lachen, tanzen und tanzen und tanzen…